Ultraviolett
– Johann Wilhelm Ritters Werk und Goethes Beitrag – Zur Biografie einer Kooperation
Olaf Müller, Philosoph und Mathematiker, Professor mit Schwerpunkt Wissenschaftsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, nimmt sich in seinem neuen Werk, angelegt als Doppelbiografie, noch einmal Johann Wolfgang Goethe vor und Johann Wilhelm Ritter, der 1801 das Ultraviolett nachgewiesen hatte. Er untersucht ihre Zusammenarbeit und gegenseitige Einschätzungen ihres wissenschaftlichen Werkes. Die Entdeckung des Ultravioletts wird beschrieben, eingeordnet in den damaligen Diskurs und Ritters eigene Verortung nachvollzogen.
Der Autor, der zuvor schon Goethes Farbenlehre experimentell beleuchtet hatte, wirft im Fach Wissenschaftsgeschichte auch methodische Fragen auf, die ebenso für den allgemein am Farbenthema interessierten Leser bedenkenswert sind, weil sie grundlegende Herangehensweisen beleuchten. Z.B., ob wir heute in vermeintlich technisch erleuchteten Zeiten in Form von whig history milde auf eine wissenschaftlich dunkle unwissende Vergangenheit blicken oder den Zeitbezug wählen und die Logik der damaligen Erkenntnismöglichkeiten als Rahmen betrachten, und die Originalität der damaligen Fragestellungen noch einmal als Quelle der Inspiration auch für heutige Hypothesen erachten. Müller hat sich für die zweite Möglichkeit entschieden. Damit ist die Zielgruppe entsprechend definiert: Open minded und kritisch gleichermaßen. Am besten multidisziplinär aus- oder vorgebildet.
Vereinfacht formuliert war die damalige Fragestellung: Verhalten sich Licht und Schatten (Finsternis) polar gegenüber und entsprechend die jeweiligen Komplementärfarben (Goethe) oder gibt es nur Spektralfarben im Licht aus der Dunkelheit heraus beobachtet (Newton). Aus heutiger Sicht liegt für die optische Physik das farbig visualisierbare Farbenspektrum auf dem Kontinuum der elektromagnetischen Strahlung und für die Neurophysiologie der Sehvorgang als von Augen und Gehirn geleistete Farbempfindung der elektro/chemischen umgesetzten Impulse bestimmter Frequenzen, die sich als Welle oder Teilchen fortbewegen. In diesem Weltbild und wegen seiner Anti-Newton-Polemik und seiner selbst formulierten Abgrenzung zu den Physikern galt Goethe als überholt und unwissenschaftlich. Durch neuere Experimente der Optik fällt das Urteil in Fachkreisen wieder milder aus, z.B. bei Rang und Grebe-Ellis.
Ritter, Physiker und Chemiker (für ihn war die Chemie ein Teilgebiet der Physik) war laut Müllers Recherchen sehr angetan von Goethes Arbeit und blieb das auch nach einer kurzen Phase gemeinsamer Forschung, einem noch kürzeren Streit und einer längeren, eigenständigen Forschung in München. Er bezog sich in Schriften und Briefen immer wieder auf Goethe als denkverwandten Kollegen. Der Naturwissenschaftler Ritter schrieb literarisch und der Dichter Goethe forschte naturwissenschaftlich.
Damit fielen beide aus dem Rahmen der Zeitgenossen und Nachfahren.
Deren aburteilender Auffassung tritt Müller mit seinen akribischen Recherchen des historischen Materials entgegen. Wir folgen einer kurzen Geschichte einer fruchtbaren Zusammenarbeit und des gegenseitig inspirierenden Austausches zwischen Ritter und Goethe, der dafür sogar seine Arbeit am Faust eine Weile unterbrach.
Müller geht in seiner Fragestellung noch einmal zurück zur wissenschaftlichen Leistung Ritters (Urvater der Batterie), der ja nur mittelbar über das geschwärzte Hornsilber (Silberchlorid) den Nachweis des Ultravioletts erbringen konnte. Das interessierte natürlich den von ihm sofort Unterrichteten, da er sich zusätzlich zu seinen eigenen Experimenten beim natürlich Sichtbaren mit der Entdeckung des Infrarot (Herschel, 1800) mit Thermometer und Fachjournalen befasste.
Wer sich nun inhaltlich vertieft damit beschäftigen möchte, findet bei Müller eine quellenreiche Schrift von 560 Seiten plus Literaturverzeichnis. Den Leser:innen ergeben sich eigene Fragestellungen während der Lektüre bezüglich der vermeintlichen Gewissheiten und fachlichen Begrenztheiten bzw. Abgrenzungen zum Thema Farben und Licht. Und vor allem auch der gegenwärtig obsoleten Polaritätsidee. Und damit können wir Müller folgen auf den Spuren seiner eigenen Erkundungen und Reflexionen über Wissenschaftstheorie und Notwendigkeit des Experimentellen. Das Phänomen lässt sich bis heute nicht von einer einzelnen wissenschaftlichen Fachdisziplin erhellen. Und verlangt auch heute Respekt zur Nachbardisziplin und sogar zum künstlerisch forschenden Geist. Für Forschende zum Phänomen Farbe und Licht also eine lohnende Studie. Wissenschaftshistoriker:innen mögen sich ggf. in ihrem Feld über die Methodik streiten; das betrifft ihr eigenes Fachgebiet. Jedenfalls sind alle Quellen sorgfältig primär belegt. Dass sich das Buch zwangsläufig auch für Akademiker:innen sperrig liest, ist nicht zu vermeiden. Wir springen zwischen Beschreibungen der Experimente, Wissenschaftstheorie, Physik, Chemie, Mathematik Literatur und Wissenschaftsgeschichte plus biografischen Erzählungen hin und her. Der Autor selbst schreibt sachkundig, schlagfertig und humorvoll und spiegelt sich in seinen Protagonisten in der sprachlich eigenwilligen Darstellung des Themenfeldes. Das macht es auf der einen Seite in sich lesenswert, auf der anderen Seite sehnt man sich manchmal nach formaler Erleichterung zum besseren Verständnis des komplexen Sachverhalts. Der Versuch, die angebotenen Vertiefungsabschnitte zu präsentieren, enden wegen der Schriftgröße verlagsseitig im unkomfortablen Lesebereich. Sie sind aber zu interessant, um als Fußnote aus dem Text verbannt zu werden. Das Werk liest sich als Hybrid zwischen Fachbuch, Sachbuch und Biografie. Es legt ein historisches Fundament zur heutigen, aktuellen Studienlage über Ultraviolett als zukünftigem technischem Virostatikum.
Olaf Müller hat ein schönes Buch geschrieben.
Selbst Goethe war das Thema eine große, schier nicht zu bewältigende Aufgabe. Daher am Schluss in Anerkennung der aufwändigen interdisziplinären Leistung Müllers ein Zitat aus Goethes Farbenlehre:
„Antizipation
O, meine Freundin, das Licht ist die Wahrheit, doch die Sonne ist nicht die Wahrheit, von der doch das Licht quillt. Die Nacht ist Unwahrheit. Und was ist Schönheit? Sie ist nicht Licht und nicht Nacht. Dämmerung; eine Geburt von Wahrheit und Unwahrheit. Ein Mittelding. In ihrem Reiche liegt ein Scheideweg so zweideutig, so schielend, ein Herkules unter den Philosophen könnte sich vergreifen.
(Goethe, Brief an Friederike Oeser, 1769. in Schriften zur Naturwissenschaft, erste Abteilung Band 3)“
Rezensentin: Susanne Wied
Kuratorin für Farbe und Therapie, Deutsches Farbenzentrum e.V.
Hrsg. Pschyrembel Pflege
Müller, Olaf: Ultraviolett – Johann Wilhelm Ritters Werk und Goethes Beitrag – Zur Biografie einer Kooperation; Schriften der Goethe Gesellschaft, Band 80; Wallstein Verlag, Göttingen 2021